Heidrun Piwernetz, Abdullahs Bäumchen von Margarete Kubelka. Die Stadt hat in der Vorweihnachtszeit auch diesmal wieder ihren üblichen Schmuck angelegt. Lichterketten, Tannenbäume und in den Schaufenstern der Geschäfte Rauschgoldengel, lamettabehängte Tannenzweige, Krippendarstellungen und Weihnachtspyramiden. Und mittendrin stand im Schaufenster eines kleinen, unscheinbaren Ladens ein winziges Bäumchen, eine kleine Tanne, ein wenig Lametta und ein paar elektrische Kerzen. Aber es behauptete sich tapfer gegen all den Glanz und beleuchtete die bescheidene Szenerie: ein paar Hosen und Röcke, zwei Kleider, nicht mehr ganz neu, aber sorgfältig zusammengelegt und drapiert. Der Laden gehörte einem türkischen Flick- und Änderungsschneider, den alle nur Abdullah nannten. Abdullah schlug sich mehr schlecht als recht durchs Leben. Die wohlhabenden Leute ließen nichts ändern oder modernisieren. Die warfen alles weg, was ihnen nicht mehr gefiel, und die Ärmeren änderten ihre Sachen meistens selbst. Er hielt sich so eben über Wasser und versuchte, durch Freundlichkeit zu ersetzen, was seinem Geschäft an Komfort und Werbewirksamkeit fehlte. Als Abdullah das Christbäumchen in sein Schaufenster gestellt hatte, fingen die Menschen an, Mutmaßungen anzustellen. Warum hatte er, ein Mohammedaner das wohl getan? Die Botschaft des Herrn hat ihn erreicht, sagte der Pfarrer, und seine Frau erinnerte sich plötzlich, dass die Blue Jeans ihres ältesten Sohnes gekürzt werden mussten und dass man diese Arbeit gewiss einem Mann anvertrauen konnte, der so offensichtlich begonnen hatte, sich der christlichen Glaubenslehre zuzuwenden. Er hat ein Licht angezündet, vermutete eine Nachbarin, weil man den kleinen Laden kaum sieht. Vielleicht sollte man sich dort einmal umsehen. Und sie trug einen Rock zu Abdullah, in den ein neuer Reißverschluss eingesetzt werden musste. Ein Fotograf, der für eine Tageszeitung die vorweihnachtliche Atmosphäre der Stadt mit der Kamera einzufangen angewiesen war, entdeckte Abdullahs Laden als den Hit des Tages. So viel Bescheidenheit in all dem Pomp, ein so kleines Geschäft zwischen den Riesenfassaden der Kaufhäuser, diese schmalen Fenster und fast verschämt hingelegten Röcke, das hatte doch noch Stil. Das war Nostalgie! Unter einen Weihnachtsbaum gehören auch Geschenke, dachte ein Kind und brachte Abdullah eine Micky Maus aus Plüsch, der das rechte Ohr fehlte, die es aber lieb hatte. Das war ein merkwürdiges Geschenk für einen erwachsenen türkischen Schneider. Aber es wurde zum Signal. Nachbarn und Vorübergehende wollten nicht nachstehen und sich von einem Kind beschämen lassen. Und sie brachten Keramikvasen, Kugelschreiber, Wandteller, Trachtenpuppen und sogar eine Flasche Schnaps, mit der Abdullah freilich ebenfalls nichts anfangen konnte, weil der Prophet den Genuss dieses flüssigen Elixiers verboten hatte. Aber darum ging es ja im Grunde nicht. Abdullah war angenommen worden, beschenkt, besucht, gefragt, war seine Geldsorgen los, und hatte in der Herzgegend ein Gefühl, als liege dort ein warmer Gegenstand aus Watte. Er dachte darüber nach, was diese Wandlung in seinem Leben wohl verursacht hatte, und er sah sein Bäumchen an, das so viel kleiner war als die anderen und dachte: Es muss einfach nur das Licht gewesen sein. Das Licht, das an seinem Bäumchen brannte. Das Licht, das jeden Morgen aus dem Orient kam, woher er auch gekommen war. Das Licht eines Sterns, der vor Jahrtausenden gebrannt hatte. Oder auch nur das Licht, das in jedem Menschen wohnt, der es nicht mit Hass und Dummheit erstickt. Und er zündete ein Streichholz an und ließ es lange brennen, bevor er damit die Scheite im Ofen entfachte, der die kleine Wohnung bald mit Wärme und Behaglichkeit erfüllen würde. Das konnte er sich leisten, denn die Kohlenrechnung hatte er gestern bezahlt. Eine schöne Adventszeit wünsche ich Ihnen allen.