Mein Name ist Silvia Taubmann und ich habe Ihnen eine Geschichte von Bertolt Brecht mitgebracht. Das Paket des lieben Gottes. Es war Weihnachten 1908. Die Geschichte spielt in Chicago. Die wirtschaftliche Lage dort war trostlos in diesen Jahren und es gab weder Arbeit noch Unterkünfte. Und so haben einige Obdachlose den Weihnachtsabend in einer Gaststätte verbracht. Bei einem einzigen Glas Whisky, das sie sich gerade noch leisten konnten, und saßen da in einer sehr bedrückten Stimmung. Aber gegen 10:00 kamen zwei, drei Burschen herein, die der Teufel mochte wissen, woher ein paar Dollars in der Tasche hatten, und die luden, weil es doch eben Weihnachten war und Sentimentalität in der Luft lag, das ganze Publikum ein, ein paar Extragläser zu leeren. Fünf Minuten darauf war das ganze Lokal nicht wiederzuerkennen. Alle holten sich frischen Whisky und paßten nun ungeheuer auf, dass ganz korrekt eingeschenkt wurde. Die Tische wurden zusammengerückt, und ein verfroren aussehendes Mädchen wurde gebeten, einen Cake walk zu tanzen, wobei sämtliche Festteilnehmer mit den Händen den Takt klatschten. Aber es wollte keine rechte Stimmung aufkommen, bis wir die Idee hatten, Geschenke zu verteilen. So schenken wir dem Wirt einen Kübel mit schmutzigem Schneewasser von draußen, wovon es gerade genug gab, damit er mit seinem alten Whisky noch ins neue Jahr hinaus ausreichte. Dem Kellner schenkten wir eine alte, zerbrochene Konservenbüchse, damit er wenigstens ein anständiges Servicestück hatte, und einem zum Lokal gehörigen Mädchen ein schartiges Taschenmesser, damit sie wenigstens die Schichtpuder vom vergangenen Jahr abkratzen könnte. Alle diese Geschenke wurden von den Anwesenden, vielleicht nur die Beschenkten ausgenommen, mit herausfordernden Beifall bedacht. Und dann kam unser Hauptspaß. Es war nämlich unter uns ein Mann, der mußte einen schwachen Punkt haben. Er saß jeden Abend da, und Leute, die sich auf dergleichen verstanden, glaubten mit Sicherheit behaupten zu können, dass er, so gleichgültig er sich auch geben mochte, eine gewisse unüberwindliche Scheu vor allem, was mit der Polizei zusammenhing, haben mußte. Aber jeder Mensch konnte sehen, dass er in keiner guten Haut steckte. Für diesen Mann dachten wir uns etwas ganz Besonderes aus. Aus einem alten Adressbuch rissen wir mit Erlaubnis des Wirtes drei Seiten aus, auf denen lauter Polizeiwachen standen, schlugen sie sorgfältig in eine Zeitung und überreichten das Paket unserem Mann. Es trat eine große Stille ein, als wir es überreichten. Der Mann nahm das Paket zögernd in die Hand und sah uns mit einem etwas kalkigen Lächeln von unten herauf an. Ich merkte, wie er mit den Fingern das Paket anfühlte, um schon vor dem Öffnen festzustellen, was drin sein könnte. Aber dann machte er es rasch auf. Und nun geschah etwas sehr Merkwürdiges. Der Mann nestelte eben an der Schnur, mit der das Geschenk verschnürt war. Als sein Blick scheinbar abwesend auf das Zeitungsblatt fiel, in das die interessanten Adressbücher geschlagen waren. Aber da war sein Blick schon nicht mehr abwesend. Sein ganz dünner Körper, er war sehr lang, krümmte sich sozusagen um das Zeitungsblatt zusammen. Er bückte sein Gesicht tief darauf herunter und las. Niemals. Weder vor noch nachher habe ich je einen Menschen so lesen sehen. Er verschlang das, was er las, einfach. Und dann schaute er auf. Und wieder habe ich niemals, weder vor noch nachher, einen so strahlen schauen sehen wie diesen Mann. Da lese ich eben in der Zeitung, sagte er mit einer verrosteten, mühsam ruhigen Stimme, die ihn lächerlich im Gegensatz zu seinem strahlenden Gesicht stand, das die ganze Sache einfach schon lange aufgeklärt ist. Jedermann in Ohio weiß, dass ich mit der ganzen Sache nicht das Geringste zu tun hatte. Und dann lachte er. Und wir alle, die erstaunt dabei standen und etwas ganz anderes erwartet hatten und fast nur begriffen, dass der Mann unter irgendeiner Beschuldigung gestanden und inzwischen, wie er eben aus diesem Zeitungsblatt erfahren hatte, rehabilitiert worden war, fingen plötzlich an, aus vollem Halse und fast aus dem Herzen mitzulachen, und dadurch kam ein großer Schwung in unsere Veranstaltung. Die gewisse Bitterkeit war überhaupt vergessen, und es wurde ein ausgezeichnetes Weihnachten, das bis zum Morgen dauerte und alle befriedigte. Und bei dieser allgemeinen Befriedigung spielte es natürlich gar keine Rolle mehr, dass dieses Zeitungsblatt nicht wir ausgesucht hatten, sondern Gott.